Lost Ember: Die Schönheit einer fast vergessenen Zivilisation

Das Indie-Game Lost Ember ist das wunderschöne Erstlingswerk der Hamburger Mooneye Studios. Finanziert wurde das Action-Adventure durch eine überaus erfolgreiche Kickstarter-Kampagne, die bereits binnen der ersten Tage ihr Ziel erreicht hat. Zum Glück hat das Crowdfunding super geklappt und wir können uns seit dem 23. Oktober 2019 auf Erkundungstour durch die untergegangene Welt der Yanrana begeben. Dabei lernen wir die Geheimnisse einer vergangenen Zivilisation und erleben die Geschichte ihres Zerfalls, indem wir verborgene Erinnerungen aufdecken, Sammelgegenstände suchen oder die zerstörten Ruinen erforschen.

Auf den Spuren der Vergangenheit

In der Story von Lost Ember schlüpfen wir in die Rolle eines Wolfs, der von einem kleinen roten Funken, einer „verlorenen Seele“, begleitet wird. Das Besondere: Als Wolf sind wir ein sogenannter Seelenwanderer. Das ermöglicht uns, in die Körper verschiedenster Tiere zu schlüpfen und die Welt durch ihre Augen zu sehen. Ohne große Anweisungen werden wir in die Spielwelt von Lost Ember hineingeworfen und können erkunden, erforschen und vor allem: bewundern. 

In der etwa fünfstündigen Spielzeit führt uns das Spiel durch verschiedene Kapitel, die durch abwechslungsreiche Landschaften geprägt sind. So flattern wir als flinker Kolibri durch zerklüftete Felsenformationen, stampfen als Bison zusammen mit unserer Herde durch eine triste Wüste, kugeln als niedlicher Wombat einen Abhang hinunter oder segeln im Körper eines Papageis ehrfürchtig über eine wilde Dschungellandschaft. Stoßen wir auf ein überflutetes Gebiet, so verwandeln wir uns in einen kleinen Fisch. Ob unter Wasser oder in der Luft - erkundet wird hier überall. Dabei interagieren wir immer wieder mit der Natur und werden quasi eins mit ihr. Beim Genießen der wunderbaren Landschaft stoßen wir immer wieder auf verfallene Ruinen, die wie Mahnmale aus der wilden Natur hervorstechen. Die letzten Zeugen der Vergangenheit sind überwuchert, verwildert und verfallen. Die Natur hat sie zurückerobert. Aber was ist mit den Menschen passiert, die sie erbaut haben?
In der wilden Landschaft erblicken wir die letzten Zeugen der Vergangenheit - zerstörte Ruinen. (© Mooneye Studios)

Der Untergang der Yanrana

Was der Zivilisation der Yanrana widerfahren ist, erfahren wir Kapitel für Kapitel, Schritt für Schritt. Rote Rauchsäulen in der Ferne deuten auf Erinnerungen hin, die darauf warten, von uns aufgedeckt zu werden. Unser steter Begleiter, die kleine rote Lichtkugel, hat ebenfalls ab und an etwas zu sagen und trägt auf diese Weise zur Vervollständigung der Geschichte bei. Um mehr über das mysteriöse Volk der Yanrana zu erfahren, können wir in der segmentartigen Open-World Artefakte finden, wie z. B. Werkzeuge oder Schmuck. So wird die Geschichte zwar weitestgehend minimalistisch erzählt, wovon man sich jedoch keineswegs abschrecken lassen sollte. Die Geschehnisse werden nämlich durch tolle Bilder und fabelhafte musikalische Untermalung emotional in Szene gesetzt. Als Spieler*in möchte man die Augen gar nicht vom Bildschirm richten. Vor allem zum Kulminationspunkt der Handlung hin übertrifft sich das Spiel in seiner fesselnden Inszenierung. 

An dieser Stelle sei die Musik hervorzuheben: Das Gesehene wird zumeist on point mit passender Musik untermalt. Sind wir mit einem Fisch auf einer zackigen Reise abwärts durch einen sumpfigen Flusslauf, so ist auch die Musik zackig und flott. Steigt die Dramatik einer Szene an, so wird auch dies musikalisch treffend umgesetzt. Warum aber schreibe ich „zumeist“? Nun ja, so stimmig die Musik in wichtigen Momenten eingesetzt wird, so gibt es doch immer wieder Zeitpunkte, wo es doch sehr ruhig ist. Zu ruhig. In diesen Momenten wirkt es dann so, als würde etwas fehlen.

Fun fact: Noch bevor ich Lost Ember das erste Mal startete, kam ich in Berührung mit dem Spiel - und zwar durch die Musik. Ich bin nämlich auf das Lied Come back home aus dem Release Trailer aufmerksam geworden und war direkt hingerissen. Anscheinend habe ich es sogar so häufig gehört, dass Spotify es in die Playlist meiner meistgehörtesten Lieder 2020 aufnahm. Also: Die Musik ist wirklich wunderbar schön! Reinhören lohnt sich in jeden Fall.

Fliegen wie ein Vogel, schwimmen wie ein Fisch

Das, was das Gameplay ausmacht, ist das Spielen der verschiedenen Tiere. Es fühlt sich durchaus anders an, ob ich mit den rasend schnellen Flügeln eines Kolibris in den Himmel emporsteige, mit einer Bergziege in schwindelerregende Höhe klettere oder mit meinem Wolf durchs hohe Gras streife. Um in der Story voranzukommen, müssen wir zwischen den unterschiedlichen Tiere wechseln. So können wir nur als ein kleiner Wombat durch enge Öffnungen schlüpfen oder als Maulwurf in der Erde buddeln. Dabei bleibt das Gameplay stets entspannt und erfordert keine hohen Anforderungen, ohne dabei anspruchslos zu sein. 

Der Fokus des Spiels liegt ganz klar auf dem magischen Gefühl, was es vermittelt sowie der tierischen Immersion, die wir fühlen. Dazu trägt vorrangig die Narrative durch die Erinnerungssequenzen, die wunderbar anmutende Spielwelt und das Wechseln zwischen den liebevoll animierten Tiere bei. Die Steuerung und die Kamera des Spiels fallen allerdings an manchen Stellen ziemlich hakelig aus. Dies stört zum Teil das Spielgefühl. Ebenso der Atmosphäre sind diese Störfaktoren negativ zuträglich. Kleine Pop-Ups in der Spielwelt sind zu bemerken, aber nicht weiter beeinträchtigend.
Entdecken wir ein neues Tier und schlüpfen das erste Mal in seinen Körper, hat das eine wahnsinnig tolle Wirkung. (© Mooneye Studios)

Kleines Game mit großer Message

Die Message, die Lost Ember uns mit auf den Weg gibt, ist wunderschön und vielleicht sogar aktueller denn je: Wir brauchen die Natur - aber die Natur braucht uns nicht. Beuten wir sie aus, geht sie ein. Geht sie ein, verschwinden auch wir. Sind wir vergangen, holt sie sich zurück was ihr gehört. Und das wilder, kraftvoller und schöner als zuvor. So einfach ist das.

Lost Ember ist ein Lobgesang, eine Wertschätzung, nahezu eine Huldigung der Natur. In dieser Welt sind die Hütten verfallen und bewachsen, kaputte Werkzeuge sind Zeugen einer vergangenen Zeit und riesige Ruinen prangen wie längst vergessene Denkmäler aus der Landschaft hervor. Die Menschen sind Vergangenheit. Als leichtfüßiger Wolf, winziger Fisch und paddelnde Ente sind wir in Lost Ember genau das, was wir sein sollen: ein Teil der Natur.
Vom Artstyle her erinnert Lost Ember an den erfolgreichen Indie-Hit Journey, der seit dem Jahr 2012 Spielende in seinen Bann zieht. (© Mooneye Studios)

Schlusswort

Ähnlich wie Journey vor einigen Jahren hat mich Lost Ember mit seinem ganz eigenen Charme fasziniert. Ob in der Gestaltung, der Musik oder dem auf das Tier abgestimmte Gameplay: In diesem Spiel steckt eine riesige Portion Liebe. Es ist spürbar, dass das Spiel mit Hingabe, Leidenschaft und Herzblut entwickelt wurde - und das finde ich bemerkenswert. 

Die Szene, die mir in einer Schönheit schlichtweg die Sprache verschlagen hat, ist wohl die Szene auf der Glühwürmchen-Wiese. Storymäßig passiert in diesem Moment nichts Weltbewegendes. Mit jedem Schritt über die nächtliche Wiese sprüht ein Schwarm Glühwürmchen in den Nachthimmel hinauf. Es ist eine kleine Szene am Rande, in der mit jedem Schritt, jede Menge Hoffnung mitschwingt. Hoffnung, dass Kalani ihren Weg (und vor allem ihren Frieden) finden wird.

Über die Autorin: Alice Wensch ist seit 2022 ein fester Bestandteil des NERDIC-Teams und verantwortet die Bereiche Kommunikation und Events. Nach ihrem Studium der Germanistik und Geschichte in Dresden führte ihr Weg sie in die Gaming-Welt. Alice hat eine große Leidenschaft für gute Geschichten, weshalb Story Games definitiv zu ihren Favoriten gehören.